Flucht und Vertreibung de Holder-Eggers aus Stettin

Jahrbuch 1945

verfasst von Oswald Holder-Egger

Vater bekam die Einberufung zu einem Ausbildungslehrgang des Volksturms von 02.01.— 06.01.1945 und musste in die Körnerkaserne nach Stettin. Bei miserablem Wetter hatte er 6 Tage Soldat spielen müssen. Als er zurückkam, begann auch in Finkenwalde allgemein die Ausbildung des Volkssturms. Vater wurde gleich Gruppenführer und kurze Zeit darauf Zugführer. Das Volkssturmbataillon umfasste die Orte Finkenwalde und Hökendorf. Der Reichsredner Schmidt von Birkenweg war Kompanieführer, später sogar Batterie—Führer. Die Übungen fanden zunächst nur sonntags statt. Inzwischen war die Gefahr wieder näher gerückt; der Feind stand an den Grenzen Pommerns, da wurde Stettin zur Festung erklärt und der Bau von Befestigungen angeordnet. Eine starke Befestigungslinie lief durch die Buchheide, später entlang der Autobahn bis zum Dammschen See. Zur Herstellung dieses Stellungsbaues wurde die Stettiner Bevölkerung, alle ausländischen Arbeiter und der Volkssturm angesetzt. Auch Luischen, die im Kinderkrankenhaus tätig war, musste jeden 2. Tag mit der Schippe ausziehen. So lange bis sie sich eine Sehnenscheidentzündung im Arm zugezogen hatte und nicht mehr arbeitsfähig war. Vor allem wurde ein großer Panzergraben gebaut, der längs der Autobahn lief. Die Arbeit war nicht schön, aber alles hoffte, dass dadurch dem weiteren Vordringen der Russen Einhalt geboten würde. Das Wetter war recht ungünstig, zeitweise lag hoher Schnee und der Frost saß tief in Boden. Die Arbeiten begannen Angang Februar und wurden bis Mitte März fortgesetzt. Der Volkssturm übte jetzt nicht nur sonntags, sondern auch an anderen Tagen. Es wurde geschossen mit: Gewehr, MG, MP und Panzerfaust. Allmählich wurde der Volkssturm auch eingekleidet und lag von Anfang März 1945 dauernd in Alarmbereitschaft. Die allgemeine Kriegslage war jetzt äußerst kritisch geworden. Ulrich, der im Lazarett in Berent lag, erschien am 1. Februar 1945, um in ein Stettiner Lazarett überwiesen zu werden. Dazu sollte er aber gar nicht mehr kommen, denn als er an nächsten Tag nach Stettin fuhr, um sich im Lazarett zu melden, wurde ihn dort erklärt, dass die Verlegung des Lazaretts nach dem Westen angeordnet sei. Er konnte gar nicht mehr nach Hause kommen und fuhr ohne vernünftige Ausrüstung zu unser aller Leidwesen schon am Abend des 3. Februar 1945 ab. Er kam zunächst nach Hamburg-Bergedorf und kurze Zeit darauf nach Wandsbeck. Unter den Flüchtlingen, die jetzt täglich Finkenwalde durchzogen, befand sich auch Ende Januar Jänichen, der Leiter der Gartenbauschule Driesen, der mit seinem Gespann sich fluchtartig gerettet hatte. Er trat später auch den Volkssturm bei. Ein angenehmer Hausgenosse war er uns nicht. Anfang März 1945 kam auch Wachlin aus Pyritz. Er berichtete von der Beschießung der Stadt, erzählte, dass seine Gärtnerei zerschossen sei und wollte die Entwicklung abwarten. Da ja die Kämpfe bei Pyritz wechselvoll verliefen, glaubte er, noch einmal zurückzukommen. Er hat Pyritz nur als Trümmerhaufen wiedergesehen. Zur Verstärkung des Brückenkopfes Stettin waren auch Truppen aus dem Westen eingetroffen. In Finkenwalde lag die SS—Division „Frundsberg“. Von Mitte Februar 1945 ab, hatten wir wohl dauernd Einquartierung. Die Situation war inzwischen so brenzlich geworden, dass wir ernstlich mit einem Fortgang rechnen mussten. Vor allen sollte die Gartenbauabteilung verlegt werden, die seit August in den Räumen der Schule untergebracht war. Herr Straube baute mit den Belgiern die Treckwagen zusammen. Wir konnten drei Gespanne auf den Weg bringen. Ein Wagen fuhr mit den Driesener Schimmeln. Das zweite Gespann war von einem Gut der Landesbauernschaft Westpreußen gekommen. Dritter war Millarch mit dem Schimmel, der mit unseren und Millarchs Habseligkeiten beladen wurde. Der Auszug fand an 3. Marz 1945 statt, als schon einige Artillerieeinschläge erfolgten. Straube zog mit zwei Gespannen nach Möhringen. Mutti schloss sich zunächst diesem Treck nicht an, brachte nur die Kinder sehr kümmerlich unter, kam aber mit Millarch am Abend wieder zurück. Der Wagen wurde nochmals beladen und nachdem jetzt auch der offizielle Räumungsbefehl für den Ort ergangen war, ging es am 6. März 1945 endgültig fort. Vater musste dortbleiben. Die Geschwister haben den Ort nicht mehr wiedergesehen. Mutti ist noch von Wamlitz, wo wir bei Gärtner Schulz unterkommen konnten, zwei Mal nach Finkenwalde gefahren, um noch einiges mitzunehmen. Sie hat die Beschießung des Ortes noch miterlebt. Gehalten wurde der Ort bis zum 18. Marz 1945. An diesen Tag lagen die Russen bereits auf der Finkenwalder Höhe. Hökendorf war in russischer Hand, der Endkampf ging um Altdammm und Finkenwalde. Das Bataillon lag im Keller der Turnhalle, dessen Eingang durch Treffer verschüttet war. Bei der Räumumg kam es zu einer völligen Auflösung. Der Rückzug verlief ziemlich regellos Richtung Stettin. In Stettin wurde ein Gärtnerbataillon des Volkssturms aufgestellt, das Vater technisch zu leiten hatte. Aufgabe dieses Bataillons war, die Festung ausreichend mit Gemüse zu versorgen. Dazu nahm Vater eine große Gemüsebestellung des Stadtgartens "Hildagshof“ vor. Hier besuchten wir ihn oft. Auch kam Vater oft für ein paar Stunden mit den Rad zu ums nach Wamlitz, wo wir alle in einen Zimmer hausten. Dazu lagerten dort noch alle unsere geretteten Habseligkeiten. Wamlitz war Etappengebiet und infolgedessen dauernd mit Truppen stark belegt. Sogar das Gewächshaus von Gärtner Schulz diente als Unterkunft für Soldaten. Ernährungsmäßig ging es uns recht gut. Die hohen Verpflegungssätze der Truppen kamen den Zivilpersonen auch sehr zu gute. Luischen handelte bei einem Koch für einige Kilo Zwiebeln vieles an anderen Lebensmitteln ein. Luischen fuhr an 15.03.1945 nach Bansin auf Usedom und kam vier Tage später mit mir wieder, der inzwischen von Volkssturm entlassen und dort bei den Großeltern war. Am frühen Morgen des 15.04.1945 hieß es bei uns, der Ort müsse in ein paar Stunden geräumt werden. In aller Eile wurde unser Gepäck auf den Wagen geladen. Der Abmarschtermin wurde mehrere Male verschoben, was uns schon an der Richtigkeit des Befehls zweifeln ließ. Tatsächlich war es auch eine Falschmeldung. Als wir schon kurz vor Bismark waren, wurden wir von einem Kradmelder der Polizei zurückgerufen. Wir machten also wieder kehrt und waren zur Mittagszeit wieder in Wamlitz, wo Vater schon auf uns wartete. Acht Tage später bereitete der Russe eine große Offensive vor. Wir merkten es daran, dass er ununterbrochen die kleinen Dörfer westlich Stettins durch Tiefflieger beschoss. Mehrere Dörfer sahen wir in Flammen aufgehen. Auch Wamlitz blieb nicht unbehelligt. In Neuenkirchen wurden mehrere Häuser zerstört. Nach diesem allen zu urteilen, würde der Endkampf auch schärfere Formen annehmen, und dass dann die bisherige Frontlinie nicht gehalten werden konnte, war vorauszusehen. Vater war deshalb für einen zeitigen Fortgang. Vater selbst musste wiederum bleiben. Am 22. April 1945 wurde nun unser Wagen zum dritten Mal beladen und dann traten wir die große Reise ins Ungewisse an. Millarchs saßen vorn auf den Kutscherbock, die beiden Kleinen hinten zwischen dem Gepäck. Dann folgten Luischen und ich auf Rädern. Unsere Nachhut führte Mutti mit dem Schaf an der Hand. Beide gaben das Marschtempo an, das viel Ähnlichkeit mit der Schnecke hatte. Beim Auszug überraschte uns auf freier Strecke wieder ein Tiefliegerangriff doch kamen wir unbeschadet davon. Am Nachmittag kam dann ein ziemlich üppiger Regen von Himmel, sodass wir an Abend des 1. Reisetages völlig durchnässt in Löcknitz ankamen. Wir blieben hier zur Nacht beim Gärtner Hiermann, der uns sehr hilfreich bewirtete. Der Wagen musste auf den Nachbarhof stehen. Ich schlief zur Åufsicht zwischen dem Gepäck. Am folgenden Morgen wurde der Marsch fortgesetzt; wir gerieten in eine große Treckkarawane, es waren die Bauern und Gutsleute der bombardierten Dörfer. Viele Ochsengespanne sahen wir darunter, daher war das Marschtempo derer noch geringer als unseres und wir konnten uns an die Spitze setzen. Die Straße war bergig, doch überwand unser Schimmel sie gut. Das gesteckte Tagesziel erreichten wir schon am Nachmittag. Beim Gärtner Zimmermann in Pasewalk baten wir um Nachtquartier. Der Wagen wurde in die etwas außerhalb der Stadt liegende Scheune gefahren. Wir übernachteten in der Wohnung. Am 24.04.1945 wollten wir Ferdinandshof erreichen und brachen daher früh auf. Doch brachte uns das Schaf Verzögerung. Bisher war es uns immer treu gefolgt. Jetzt plötzlich bockte es und blieb mehr und mehr zurück. Es lief jedoch wieder, als es gemolken wurde und sich am Straßengraben erlaben durfte. In Sassnick machten wir Rast, setzten uns in den Straßengraben und aßen unser Mittagsbrot. In Ferdinandshof nahm uns Gärtner Kerlin auf, bei den wir den ganzen folgenden Tag verbrachten, um uns auszuruhen. Ruhe hatte vor allen Mutti nötig, denn sie war bisher immer gelaufen. Den Angriff auf Pasewalk erlebten wir aus der Ferne mit und waren froh, dass wir dem noch entgangen waren. Am 26.04.1945 nahmen wir das Zigeunerleben wieder auf. Bei Ducherow machte das Schaf wieder Schwierigkeiten. Es blieb einfach stehen und war durch nichts zu bewegen, weiterzugehen. Es musste also gefahren werden. Auf den Treckwagen war kein Platz mehr. Doch wir verfügten noch über einen zweiten Wagen, nämlich den von Brigitte. Auf den wurde nun das fuß lahme Tier heraufgelegt und an Kopf und Füßen angebunden Dies seltsame Gefährt trottete von nun ab immer hinter drein und wurde von allen Seiten belacht. Unser Marschtempo konnte dadurch auch etwas beschleunigt werden. Vor Anklam begegnete uns eine Gruppe KZ—Leute aus den Lager Pölitz. Abends kamen wir müde und hungrig nach Anklam. Lange irrten wir in der Stadt herum, fanden jedoch kein Nachtquartier. Schließlich standen wir wieder vor dem Tore und wussten nicht wohin. Da plötzlich sahen wir Vater auf dem Rad in die Stadt fahren. Die Freude war bei uns groß. Wir fuhren durch Anklam durch und übernachteten gemeinsam in der Gärtnerei Metzler an Ortsausgang. Vater erzählte uns: Stettin wurde am Morgen des 24.04.1945 übergeben. Die Besatzung und Bevölkerung verließ fluchtartig die Stadt. Der Volkssturm sammelte sich erst in Hintersee. Von dort wurde Vater als Quartiermacher nach Anklam geschickt. Am folgenden Vormittag wussten wir nicht recht, was wir nun beginnen sollten. Vater und ich gingen deshalb in die Stadt, um etwas über die allgemeine Lage zu hören. Die Kreisleitung der Partei war ratlos. An Nachmittag zog ein großer Treck in Richtung Demmin durch die Stadt. Gärtner Schulz aus Wamlitz war auch darunter. Ein paar Stunden später hatte ein Gerücht vom schnellen Vormarsch der Russen ganz Anklam auf die Beine gebracht. Ein großer Teil der Einheimischen verließ die Stadt. Auch uns hielt es nun nicht mehr hier. Noch an Abend zogen wir Richtung Greifswald. Vater konnte nicht mit uns gehen. Er versprach jedoch uns zu folgen, sobald er von seiner nachfolgenden Truppe einen entsprechenden Marschbefehl erhalten hatte. Um uns nicht zu verfehlen, wurden Zeichen verabredet, die ich an Häusern, Bäumen, Kilometersteinen, Brückengeländern und sonstigen Stellen anzubringen hatte. Wir fuhren zunächst in einen Treck, später überholten wir ihn und waren wieder alleine. In der Dunkelheit sahen wir das Aufblitzen der Geschütze. Kurz vor Mitternacht machten wir Halt. Auf einem Gehöft an der Straße 10 km hinter Anklam brachten wir den Rest der Nacht zu, bis uns im Morgengrauen der Räumungsbefehl auch für dieses Gehöft wieder auf die Beine half. In der Scheune übernachtete Polizei, darunter trafen wir Sattlermeister Nause aus Finkenwalde. Wir richteten uns nun wieder in die lange Kolonne der Treckwagen ein und fuhren so in Verband bis Züssow, wo gerastet wurde, wir aber weiterfuhren und erst auf einen Gut vor Greifswald Halt machten. Dort begegneten wir Henry aus Finkenwalde. In Greifswald zogen wir um die Mittagszeit ein. Die Stadt war mit Menschen vollgestopft. Radfahren war unmöglich. Viele Finkenwalder sahen wir. Wir hielten uns jedoch nicht auf, sondern fuhren in Richtung Stralsund weiter. Luischen hinterließ bei der Kreisbauernschaft Nachricht für Vater. Bis 5 Uhr nachmittags setzten wir unseren Gewaltmarsch fort, dann plagte uns der Hunger und die Müdigkeit zu sehr. In Kirchdorf, 10 km hinter Greifswald, fanden wir Unterkunft. Die Bauersfrau kochte eine schöne Milchsuppe für uns. Die Nacht verbrachten wir in der Scheune mit allerlei Viehzeug zusammen. Eine Stute, die auch unter demselben Dach wohnte, biss unserem Schaf einen Büschel Wolle aus. Am 29.04.1945 brachen wir früh auf und schlossen uns einen Treck an. Das Gelände hatte einen bergigen Charakter. In Gegensatz zu den Bauernwagen ohne Bremse, machten unserem Gefährt die abschüssigen Teile der Straße nicht allzu große Schwierigkeiten, Etwa 10 km vor Stralsund wurde die ganze Treckkarawane umgeleitet und fuhr nun auf einer Straße 2. Ordnung. Wir folgten. Ich war zur Kennzeichnung der Straße etwas zurückgeblieben, bemerkte die Änderung der Fahrtrichtung des Trecks nicht und fuhr auf der Hauptstraße weiter bis ich von einem Soldaten von der Umleitung erfuhr. Auf dem Rückweg stieß ich auf Vater, der uns, wie verabredet, gefolgt war. Beide fuhren nun den Wagen nach. Nach kurzen Kriegsrat beschlossen wir, die Nebenstraße weiter zu fahren. Unser Plan war folgender: Wir wollten in Gegensatz zu den übrigen Trecks, die meistens Mittelmecklenburg zum Ziele hatten, immer die Küstenstraße verfolgen und versuchen, über Rostock nach Wismar zu kommen, wo wir schon den Amerikaner glaubten, um so wenigstens den Russen zu entgehen. Für unser zweites Gefährt war diese neue Straße nicht geeignet. Wir mussten scharf aufpassen, dass der Wagen mit seiner eigentümlichen Fracht sich nicht überschlug. Das Pflaster aber wurde bald so minderwertig, dass das Schaf wieder mal seine ausgeruhten Beine gebrauchen musste. Mittagsrast machten wir in Abtshagen, wo bei einen Bauern Kartoffeln gekocht wurden. Am Nachmittag gönnten wir uns eine Pause in Franzburg und tranken dort noch ein Glas Bier. Dann fanden wir 3 km weiter in einer Scheune Unterkunft für die Nacht. Am folgenden Morgen fuhr Luischen zurück nach Franzburg, um noch auf die Marken Lebensmittel zu kaufen, indessen wir anderen schon voranfuhren. Inzwischen erreichte uns die Nachricht, dass wir den Russen nur 24 Stunden voraus waren. Wir mussten uns nun, obgleich es uns allen schwerfiel, mit dem Gedanken abfinden, dass der Russe in 1—2 Tagen bei uns sein werde. Unsere eigentliche Flucht fortzusetzen, erschien uns zwecklos und auch zu gefährlich. Vielmehr mussten wir uns jetzt sesshaft machen, um den ersten Russen nicht auf der Straße zu begegnen. Luischen kam erst wieder zu uns, als wir schon mehrere Kilometer hinter uns hatten. Statt Lebensmittel hatte sie einige Flaschen Richtenberger gebracht, der auf den Markt frei verteilt wurde. Nun hatten wir auch etwas, womit wir den 3Q.April — Hochzeitstag der Eltern — festlich begehen konnten. Der Wagen wurde mit Blumen aus den Straßengraben geschmückt. Es war eine idyllische Hochzeitsfeier auf der Landstraße. Von der Hauptstraße, die nach Barth führte, bogen wir links ab und steuerten auf Marlow zu, welches wir uns zum Endziel bestimmt hatten. Zur Mittagszeit machten wir mehrere Stunden auf den Gut Semlow halt. Vater aß ziemlich ausgiebig beim Gutsgärtner zu Mittag, auch fand er noch Zeit, sich zu rasieren. Gegen Abend überschritten wir die pommersch-mecklenburgische Grenze und bald darauf waren wir am Ziel. Marlow ist eine Kleinstadt in Kreis Rostock. Sie erstreckt sich vom Fuße bis zur Spitze eines Berges. Uns wurde ein Quartier bei einem Bauern angewiesen, der ziemlich auf der Höhe wohnte. Die Steigung des Berges machte unseren Schimmel viel zu schaffen, wir mussten alle tüchtig schieben. Bauer Schulz nahm uns nett auf. An Abend aßen wir noch eine fette Milchsuppe. Zur Nacht richteten wir uns in der Scheune ein, die etwas abseits lag. Pferd und Wagen wurden hier auch untergebracht. Schlafen jedoch ließ uns Brigitte nicht. Ihr war in Heu ihr Nuckel verloren gegangen, diesen Verlust konnte sie ganz und gar nicht verschmerzen. Sie jammerte die ganze Nacht und ließ uns auch nicht zur Ruhe kommen, zumal wir auch die feindliche Artillerie und Flieger über uns hörten. An frühen Morgen des 1. Mai 1945 ging Vater dann in die Apotheke und kaufte Brigitte einen neuen Nuckel. Von dort brachte Vater die die Nachricht mit, dass die Russen in wenigen Stunden hier sein würden. Es hieß zunächst, dass Marlow verteidigt werden soll. Aber man sah schon mehrere weiße Fahnen bis dann an jedem Haus ein altes Laken oder Gardine hing. Eine seltsame Beflaggung zum 1.Mai! Dann zog die Bevölkerung meistens mit etwas Gepäck in den Wald. Auch wir wollten nicht in der Ortschaft bleiben. Auf den Weg zur Försterei, die an Waldrand lag, blieben wir mehrmals in einer großen Sandwüste stecken. Schließlich hatten wir uns total festgefahren und kamen erst wieder vorwärts, als noch zwei Pferde vorgespannt wurden. Bei der Försterei trafen wir noch mehrere Gespanne aus der Stadt. Luischen und ich fuhren noch einmal in den Ort, um noch Lebensmittel einzukaufen. Wir kamen mit den Rationen für vier Wochen wieder. Gegen Mittag erzählten einige Männer aus der Stadt, dass die ersten russischen Panzer schon durch die Stadt gefahren seien. Sie rieten uns umzukehren. Mutti kochte in Freien noch Kartoffel, Butter dazu bekamen wir von einem Soldaten. Die Rückfahrt aus den Wald gestaltete sich ebenso schwierig wie an Morgen die Hinfahrt. Es dauerte wohl ziemlich zwei Stunden, bis wir aus den Sande heraus waren. Im Ort war noch alles beim Alten. Weitere Truppen waren noch nicht eingetroffen. Die Männer sollten weiße Armbinden tragen. Unseren Wagen stellten wir auf den Hof von Bauer Schulz ab. Der Schimmel wurde in unserer Scheune untergebracht. Abgeladen wurde nicht. Nach den Mittagessen hörten wir von der Hauptstraße her lauter Geratter und Gegröle. Die Russen waren da! Bald ließ sich auch ein Rotarmist von etwa 2 Zentner Lebendgewicht bei uns sehen. Er kam zuerst in die Küche, wo wir alle beisammensaßen, und gab tierische Laute von sich, er brummte ein paar Mal: „Uri Uri“. Schließlich hatten wir verstanden, dass er die Uhr meinte, doch er bekam natürlich zu verstehen, dass er sich deutlicher ausdrücken müsse. Darauf kontrollierte er andere Zimmer fand Schuhcremeschachteln und anderes, die ihn wohl sehr in Erstaunen gesetzt haben müssen, denn er betrachtete sie lange und ausgiebig. Auch fand er 12 Mettwürste. Diese steckte er sämtlich unter seinen Arm und zog dann los. Das war die erste Begegnung mit den Russen. Von nun an hielten sich oft Russen im Hause auf. Luischen wurde in ständiger Aufregung gehalten. Sobald einer dieser Kerle gemeldet war, verschwand sie in Keller. Für die Nacht richteten wir uns auf den Heuboden ein, die Leiter zogen wir zu uns herauf und konnten so ungestört schlafen. Am Vormittag des 2. Mai 1945 ging Oswald in die Stadt hinunter um Brot zu besorgen. Hier sah man die ersten Anzeichen der Russenherrschaft: auf den Fahrdamm lagen ganze Autowracks, die Kaufläden waren sämtlich geplündert, Papier lag weit verstreut herum. Dem Bäcker wurde das Brot aus den Laden geholt. Zu einem geregelten Verkauf kam es gar nicht. Polen stießen den alten Millarch von Bürgersteig auf den Fahrdamm. Er brach sich den Oberschenkel. Die nächste Zeit musste er liegend in Schweinestall verbringen. Am nächsten Tage quartierte sich eine Autokolonne bei unserem Bauern ein. Der Hof stand voller Autos. Die Mannschaft war etwa 20 Mann stark. Von nun ab verließ Luischen den Heuboden nicht mehr. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die Leute anständig waren. Sie nahmen zwar die Küche in Beschlag, doch durften wir sie auch benutzen. Unseren vollbeladenen Wagen ließen sie unangetastet. Sie holten sich zwar die Betten, gaben sie uns aber an Morgen zurück. So verlief die Woche für uns ohne weitere Zwischenfälle. In der Unterstadt aber wurde toll geraubt und geplündert. Die Frauen konnten den Verfolgungen nicht mehr entgehen. Um diesen Umständen entgegen zutreten, ordnete der Kommandant an, dass die Oberstadt von den Deutschen für die Russen freigemacht werde. Damit mussten auch wir ziehen. Obgleich es vorauszusehen war, dass uns auf der Landstraße allerlei Gesindel begegnen würde, wollte Vater sogleich die Heimreise antreten, um zu Hause noch das Land bestellen zu können. Als der Räumungsbefehl für unseren Stadtteil gegeben wurde, bezogen wir kein anderes Quartier mehr, sondern nahmen wieder unser Nomadenleben auf. Millarch wurde auf seinen eigenen Wunsch auf den Kutscherbock gehoben und kutschierte nach wie vor. Zurück bleiben wollte er nicht. Kaum waren wir auf der Straße, als Vater auch schon sein Rad aus der Hand gerissen wurde. Auf der Chaussee begegneten uns mehrmals Russen die mein Rad nahmen, dafür aber das ihrige gaben. Dies Spiel wiederholte sich mehrere Male, bis wir dann in Bad Sülze auf eine Sammelstelle stießen, bei der wir alle Räder loswurden. Wir durchfuhren mehrere Ortschaften, doch ließ man uns noch ungeschoren. Deutsche Treckwagen sahen wir selten, doch viel Ausländer, meistens Polen, die unterwegs noch toll plünderten. Vor Trieses stand dann ein Posten, der uns nicht in die Stadt ließ; sondern er schickte uns zu einer Umleitung, die quer über ein Feld führte. Unser Rollwagen mit seinen kleinen Rädern eignete sich nun ganz und gar nicht für solche Wege. Aber es blieb uns nichts Anderes übrig, als ihn zu benutzen. Der Schimmel legte sich großartig ins Zeug, bis dann an einer besonders sandigen Stelle seine Sielen rissen. Da saßen wir nun völlig fest. Von der uns entgegengesetzten Richtung kamen Russenautos, die an uns vorbei wollten. Doch wir kamen trotz aller Anstrengungen nicht von Fleck. Endlich, endlich als es uns gelungen war, das Geschirr mit der Wäscheleine wieder zu flicken, kam der Wagen wieder in Bewegung. Von dieser Umleitung heruntergekommen, stießen wir auf die Demminer Straße. Hinter uns bemerkten wir einen Trupp von Leuten, die auf uns zu kamen. Zunächst wussten wir noch nicht, wer es war. Gutes würden sie uns bestimmt nicht bringen. Wir beschleunigten also unser Marschtempo, um in die Nähe von einigen Russen zu kommen, die auf der Straße pausierten. Die Menschenkolonne kam näher, es waren Polen aus den KZ. Einer von diesen Brüdern wollte seinen gestreiften Mantel loswerden und verlangte nun Vaters. Als Vater sich weigerte, seinen auszuziehen, wandte der KZ-ler sich an die Russen. Doch dies waren keine Polenfreunde, und der Kerl musste laufen. So waren wir noch einmal unbeschadet davongekommen. Inzwischen war es Abend geworden, wir mussten uns nach einem Nachtquartier umsehen. Ein Gut, das wir links der Straße liegen sahen, erschien uns dafür nicht geeignet; es wimmelte von Russen. Auf Anraten von Deutschen hin, fuhren wir zum Försterhaus, Kaum waren wir dort, wurde Millarch Uhr und Lederjacke los. Um ein anderes Quartier zu suchen, fehlte uns die Kraft. Wir waren schon ziemlich gleichgültig. Unseren Wagen schoben wir in die Scheune. Ein Stall für das Pferd war auch vorhanden. In Hause legten wir uns bald zur Ruhe. In der Nacht wurden wir von Russen geweckt, die das ganze Haus mit Taschenlampen durchsuchten. Luischen versteckte sich hinter einem Chaiselongue. Vater erzählte ihnen auf Polnisch, dass seine Kinder schwer krank seien. Sie verstanden und zogen ab. Am 8.Mai 1945 zogen wir morgens von der Försterei los. Die Chaussee war voller Polenwagen, uns ließ man ungeschoren. Unterwegs trafen wir auf einige Deutsche, die ihre Habe auf einen Handwagen geladen hatten. Später schlossen sich uns noch zwei Landser an. Sie hatten sich in Zivilkleider gesteckt und wollten sich nach Berlin durchschlagen. Nach Demmin ließ man uns wieder nicht, wir wurden also wieder umgeleitet. Dabei hatten wir eine Bahnstrecke zu passieren; da die Überführung gesprengt war, führte der einzige Weg über ein Feld! Mit ganzer Kraftanstrengung aller hatten wir schon ein gutes Stück hinter uns gebracht, als die Sielen zum zweiten Mal rissen. Sie wurden geflickt und rissen wieder. Der Wagen musste zur Hälfte abgeladen werden, dann ging es endlich vorwärts. Auf fester Straße luden wir wieder auf. Eine 1/4 Stunde entfernt spannten wir auf dem Stadtgut „Randow“ aus. Dort war sonst keine Menschenseele zu sehen. Das Herrenhaus war abgebrannt. Zur Nacht verbarrikadierten wir uns in einen Pferdestall und konnten ruhig schlafen. Der folgende Tag wurde ein Ruhetag. Wir lagen in der Sonne und aalten uns. In Laufe des Vormittags waren wir auch schon zu einem häuslichen Wohlstand gekommen. Ein Tisch wurde zusammengezimmert, Stühle fanden sich in den Zimmern des Herrenhauses. Zum Mittagessen saßen wir nach langer Zeit an einen Tisch im Freien. Der Schimmel hatte es auch sehr gut, denn wir fanden den Getreideboden voll von Hafer. Mutti kam von einem Rundgang mit einem Zentner Roggen und etlichen Knochen zurück, die dann gekocht eine ausgezeichnete Brühe abgaben. An Nachmittag bekamen wir von einen Russen Besuch, der Zucker forderte. Mit Zigaretten wurde er abgespeist. Unseren Hühnern wollten wir auch etwas Erholung gönnen und ließen sie aus der Kiste, in der sie eingepfercht waren in den Hühnerstall. Futter hatten sie reichlich, der ganze Hof war mit Korn besät. Gegen Abend fuhr ein K.-Z.-W. auf den Hof. Russen stiegen aus. Mit einem Sack bewaffnet steuerten sie auf den Hühnerstall zu und zogen dann wieder mit all unseren Hühnern ab. Wie wir nachträglich hörten, sollten die Tiere zur Siegesfeier verzehrt werden. An 10.Mai 1945 fuhren wir schon an Morgen durch Loiz. Die Stadt machte einen friedlichen Eindruck. Wir bekamen nur einen Russen zu sehen. Es wurde heiß, der Marsch fiel uns schwer. Polentrecks ließen wir an uns vorüberziehen, wir blieben unbehelligt. Gegen Mittag erreichten wir die Chaussee Demmin — Jarmen. Auf einen Gut machten wir für eine Stunde Rast. Hier fand sich noch ein dritter Landser zu uns, der auch nach Berlin wollte. In Jarmen blieben wir bei einen Gärtner. Abendbrot aßen wir gemeinsam in Freien. Das Brot wurde durch Käse ersetzt, den die Soldaten aus ihren Rucksack holten. Dann wurde noch zentimeterdick Butter aufgestrichen. Wir leisteten uns also eine sehr ausgiebige Mahlzeit. Die Folge davon war, dass jeder in der Nacht ein paar Mal die Leiter vom Heuboden, auf dem wir schliefen, hinunterklettern musste. Am nächsten Morgen trennten wir uns von den Soldaten. Sie marschierten in Richtung Neubrandenburg, wir fuhren die Anklamer Strecke. Auf halber Strecke stellte sich plötzlich heraus, dass unser Wagen eine Panne hatte. Die Buxe hatte sich gelöst. Das linke Vorderrad konnte jeden Augenblick von der Achse gleiten. Vater hatte dies glücklicherweise bemerkt und den Wagen halten lassen. Nun war guter Rat teuer. Eine Schmiede gab es nicht in der Nähe, die dies hätte reparieren können. Wir waren also gezwungen, damit selbst fertig zu werden. Das Rad musste zunächst von der Achse genommen werden. Dazu wird der Wagen mittels eines starken Hebebaumes in Gleichgewicht gehalten. In Vorbeifahren hatten wir einen solchen in Straßengraben liegen sehen. Dieser wurde geholt, und er erwies sich als geeignet, den vollbeladenen Wagen in die Höhe zu heben. Wir waren alle sehr froh darüber, ihn nicht abladen zu brauchen. An uns vorbei fuhren Polen, die nur aufs Plündern aus waren. Die Buxe, die in der Werkstatt mit einen 10-Pfund—Hammer aufgeschlagen wird, brachte Vater mit einem Stein wieder in Ordnung. Der Anklamer Kreis brachte uns wesentliche Verschlechterung. Die Russen trieben es dort besonders schlimm. Sie begründeten ihr Verhalten mit der deutschen Verteidigung der Kreisstadt. Auf freier Landstraße lauerten uns Russen auf, zwangen uns mit vorgehaltener Pistole zum Anhalten und waren dann auch schon auf dem Wagen. Sie hatten noch nicht das gefunden, was sie wollten, als ein Russengespann herankam. Unsere beiden Räuber verschwanden noch schneller als sie gekommen waren und setzten ihre „Kontrolle“ erst fort, als das Gespann vorüber war. Der eine Kerl, sogar ein Offizier, zerrte sich Vaters Stiefel heraus, der zweite warf eine kleine Ledertasche vom Wagen, in der sich auch Wäschestücke von Vater befanden, Luischens Koffer ließen sie zurück. Die beiden kleinen weinten jämmerlich, ihnen trampelten die Kerle fast auf die Köpfe. Die beiden Räuber verluden ihr Diebesgut auf ihrem Rad und waren bald verschwunden. Wir durften weiter fahren bis uns nach kurzer Zeit abermals einige Kerle anhielten, die sich nicht erst die Zeit ließen, lange zu suchen, sondern sie sprangen von vorn auf den Wagen und wuchteten einfach Millarchs großen Koffer heraus. Damit liefen sie dann querfeldein, um ihn irgendwo ungestört auszuschlachten. Wenige Kilometer von Anklam entfernt trieb wieder so eine Bande ihr Unwesen. Es waren furchtbar rohe und rabiate Kerle — meistens Mongolen -, die ganze Treckkarawanen von der Straße herunter in einen Wald trieben, um sie dort völlig und ungestört ausplündern zu können. An dieser Gefahr, alles zu verlieren, sind wir gerade noch vorbei gegangen. Die Kerle hatten schon ihre Opfer gefunden und ließen uns vorüberziehen. Immer in der Angst, solchem Gesindel noch einmal zu begegnen, beschleunigten wir unser Marschtempo und verschnauften uns erst, als wir schon innerhalb der Stadt waren. Aber auch dort war man nicht sicher. Vaters Stiefel wurden begutachtet, aber weil sie den Russen nicht gefielen, durfte Vater weitergehen. Anklam bot ein sehr trostloses Bild. Die Stadt hat stark unter den Kämpfen gelitten. Deutsche sahen wir fast gar nicht. Sie hatten sich alle in ihren Wohnungen verbarrikadiert. Dafür begegneten uns viele Russen in Zivilkleidung, die hier ausgebildet wurden. Man ließ uns jedoch zur Gärtnerei Rost, wo wir bleiben wollten. Das Haus war mit Flüchtlingen voll besetzt. Für uns blieb nur noch der Boden. Das Abladen ging ungestört vor sich, weil ein russischer Posten vor dem Haus stand, der die Gärtnerei vor Plünderungen zu beschützen hatte. Den Wagen schoben wir auf das Grundstück; der Schimmel stand, an Eingang eines selbstgebauten Bunkers festgebunden, mit den Kopf unter Dach, mit dem Hinterteil unter freien Himmel. Die Flüchtlinge behaupteten, dass sie bisher vor den Russen keine ruhige Nacht gehabt hätten. Also verrammelten wir die Dachbodentür und schliefen dann bald wie Tote. Im Morgengrauen schon standen Mutti und Luischen auf und versteckten die wertvollsten Stücke. Obgleich wir auch diese Nacht Ruhe hatten, mussten wir doch damit rechnen, hier einmal entdeckt zu werden. Doch wir sind in unserer Wohnung unmittelbar unter dem Dach niemals gestört worden. Die Plünderer ließen sich gar nicht Zeit, das ganze Haus zu durchsuchen, sondern drangen nur bis ins Erdgeschoß, packten dort etwas und waren damit auch im Nu verschwunden. Wir hatten beschlossen, hier eine Weile zu bleiben, um die schlimmste Zeit nicht auf der Landstraße verbringen zu müssen. Unsere Vorräte gingen jedoch dem Ende entgegen; Lebensmittelkarten bekamen nur die Einheimischen. Uns fehlten vor allen Kartoffeln und Brot. Etwas Milch lieferte uns das Schaf immer noch. In der Stadt fanden wir schließlich auf dem Hof einer Brennerei Kartoffeln. Es waren ganz kleine murksige Früchte und waren zum größten Teil auch schon verdorben, da sie ja dauernd der heißen Sonnenglut ausgesetzt waren. Hiervon wurde nun Tag für Tag ein Rucksack voll geholt. Auch unser Schimmel bekam hiervon, das Futter für ihn war inzwischen auch ausgegangen. Es gelang mir auch, täglich 3/4 Brot zu bekommen. Es musste immer schwer erkämpft werden. Weiter erstanden wir mehrere Male bei der Volksküche Mittagessen. Auf den Dachboden wurde die Hitze unerträglich. Sie machte uns so matt, dass wir das Bedürfnis dauernder Ruhe hatten. Luischen hatte mit einem Abszess am Gesäß zu tun, konnte weder gehen noch stehen, sitzen noch liegen. Sie befand sich in diesem Zustand fast 14 Tage bis der Arzt dann schnitt. Für Unterhaltung sorgten die vorbeimarschierenden Russenrekruten, in den sie ohne Unterbrechung eine eintönige sture Melodie sangen. Auf uns wirkte diese sehr aufreizend, wir hielten uns die Ohren zu. Während dieser ganzen Zeit bewegte uns das Problem der Heimreise, glaubten wir damals doch noch, dass wir nach Finkenwalde zurückkönnten. Unter der Bevölkerung machten sich schreckenerregende Gerüchte breit. In Stettin wurde allgemein die Pest geglaubt. Züge verkehrten schon bis Pasewalk, doch nach russischer Wirtschaft mit ein paar Tagen Verspätung. Nach fast 14-tägiger Ruhepause zogen wir wieder auf die Straße. Den Wagen beluden wir mit den wichtigsten Dingen, die anderen ließen wir zurück. Das Schaf verluden wir ebenfalls, es wurde in eine Glaskiste gestellt und mit dieser zwischen das Gepäck geschoben. Außerdem war noch so viel Platz, dass wir fast alle fahren konnten. Unsere Marschroute war Anklam — Ducherow — Ueckermünde. Die Pasewalker Chaussee war gesperrt, wir wurden auf die Friedeberger Chaussee geschickt und mussten dann auf Ducherow zu halten. Nach etwa einstündiger Fahrt gefiel es einem Russen, die Straße zu sperren. Vor uns stand schon ein ganzer deutscher Treck von etwa 10 Wagen. Vater versuchte nun auf den Posten einzureden; doch ließ er sich auf nichts ein und verwies uns auf einen Sandweg, der rechts von der Straße abbog. Vater ging nun voraus, um festzustellen, ob der Weg für unser Gefährt gangbar wäre. Ihm waren zwei Russen auf einem Panjewagen gefolgt, hatten sich zunächst scheinheilig angeboten, den Weg zu zeigen und ihm dann die Stiefel von den Füßen gezogen. Vater musste bis zum Abend auf Socken laufen, sein zweites Paar Schuhe war im Wagen so gut verpackt, dass wir jetzt nicht herankonnten. Die schwierigen Stellen überwanden wir durch gegenseitige Hilfe der übrigen Deutschen verhältnismäßig schnell. Allmählich hatten wir uns an die Spitze gesetzt und sogar einigen Vorsprung erzielt, da kam uns ein Russe auf dem Rad entgegen und stieg ab, als er erfuhr, dass wir Deutsche waren. " Ur kleine, Ur kleine" ! forderte er von uns. Doch wir dachten nicht daran, unsere gut versteckten Uhren heraus zu geben und sagten ihm, dass wir keine Uhr mehr besaßen. Er aber blieb bei seinem „Ur kleinen" und war auch nicht mit Zigaretten zu besänftigen, packte den Strang vom Wagen und drohte uns mit Zwangsarbeit auf den naheliegenden Gut. Schließlich riss er Luischens Wandertasche vom Wagen, zerstreute den Inhalt aber „Ur kleine“ fand er nicht. Anschließend durchwühlte er Muttis Handtasche und fand ein Verbandspäckchen, in das Mutti ihren Trauring eingewickelt hatte. Der Bruder kannte aber diesen Schlich schon, wickelte das Päckchen ab und griff mit gierigen Fingern nach dem Ring. Inzwischen war er auch auf die anderen Wagen aufmerksam geworden, wandte sich an diese und gestattete uns, weiterzufahren. Kaum waren wir wieder auf der Chaussee, von der wir heruntergejagt wurden, hielten uns abermals Russen an. Diese hatten es auf unseren Schimmel abgesehen, sie betrachteten ihn ziemlich lange und waren zum Schluss doch der Meinung, dass das ihrige Pferd besser sei. Um auf die Straße nach Ducherow zu gelangen, mussten wir jetzt von der Straße links in einen Weg einbiegen. Es machte uns auch einige Schwierigkeiten. Uns konnte hier niemand helfen, wir mussten daher alle tüchtig anfassen. Nach etwa eineinhalb Stunden erreichten wir die feste Straße und fuhren auf ihr ohne Zwischenfälle bis nach Ducherow. Als wir auf einen Bauernhof an Abend ausspannten, brachte eine Frau aus Hökendorf, die Vater auf Socken laufen sah, ein Paar Sandalen für ihn. Die Anprobe ergab, dass sie ausgezeichnet passten. An 22.05.1945 machten wir uns nach Ueckermünde auf. Mehr als die Hälfte des Weges führte durch Wald, der nichts Gutes für uns erwarten ließ. In Mänkebude wurde wieder ein ganzer Treck aufgehalten. Die Russen kramten in unseren Kleidertaschen, fanden jedoch nichts, was sie gebrauchen könnten. Millarchs verloren ihre zweite Uhr. Den Wagen betrachteten sie nur flüchtig. Einige Kilometer weiter holten sie vorn vom Wagen Zucker, als darauf Gisela ängstlich schrie, schenkte ihr ein anderer ein paar Stückchen Würfelzucker. Das Schaf wurde von allen Russen immer respektiert, wenn sie hörten, dass es die Milch für Brigitte lieferte. Die Russen sind im Allgemeinen kinderlieb. Wenn sie das Geschrei der beiden Kleinen hörten, enthielten sie sich oft weiteren Plünderns. Vor Leopldshagen galoppierte an uns ein Russengespann mit vollkommen abgehetzten Gäulen vorbei. Doch kurz hinter uns hielt es an. Ein Russe sprang heraus und verlangte unseren Schimmel. Wir mussten ihn ausschirren und bekamen für den Hengst eine Schimmelstute. Sie war völlig schweißig und hatte ihre Eisen an den Hufen verloren. Sonst aber war der Tausch noch zu ertragen. Vater und Millarch stritten sich sogar, welches Tier besser sei. Vor Ueckermünde verlangte ein Posten von uns einen russischen Ausweis, den wir nicht besaßen. Nach langem Hin und Her ließ er uns dann passieren. In Ueckermünde fuhren wir zur Gärtnerei Mengel. Der Gärtner war gefallen, die Frau stand mit dem Betrieb alleine da. Infolgedessen konnte Frau Mengel Vater gut gebrauchen. Unsere Wohnung bestand aus 2 Zimmern. Luischen und ich arbeiteten mit im Betrieb. Wie froh waren wir, dass wir wieder zur Ruhe kommen konnten! Die zwei Tage auf der Landstraße hatten uns alle sehr mitgenommen. Unsere Ernährung wurde hier auch besser. Wir aßen viel frisches Gemüse. Unser gefundener Roggen ergab, durch die Kaffeemühle gedreht, herrlich schmeckende Schusterjungs. Doch hier hielt es uns auch nicht länger als eine Woche. Wir wollten eben nicht anderes als nach Hause. Die Straße nach Finkenwalde führte durch den großen Forst von Ueckermünde. Wir hatten also allerlei zu befürchten. Glücklicherweise kamen wir unangetastet nach Hintersee, wo wir Mittagsrast machten. Auf den Weitermarsch wurden Vaters Taschen visitiert. Er verlor Taschenmesser und Kompass, den der Russe wohl für eine Uhr gehalten haben muss. In Falkenwalde fragte Vater beim Gärtner Gdoba an, ob wir bei ihm die Nacht bleiben könnten. Er erhielt aber eine Absage, da Gdoba nicht zu Hause war. Als er aber von Vaters Anwesenheit gehört hatte, brachte er uns in die Tischlerei, in der wir Quartier gefunden hatten, allerlei Leckerbissen. Zur Nacht machten wir es uns in der Werkstatt bequem; die Tür war verschließbar. Von einem scharfen Lichtstrahl, der mich blendete, wachte ich in der Nacht auf. Russen standen draußen und leuchteten mit der Taschenlampe durch die Scheiben. Sie versuchten jedoch nicht in die Werkstatt einzudringen. Unseren Wagen hatten wir abgeladen. Der 31. Mai 1945 sollte eigentlich unser letzter Ruhetag sein. Am Abend wollten wir schon in Finkenwalde sein. Über Polchow kamen wir nach Glambeckse, wo ein Schlagbaum die Straße sperrte. Der Posten meinte, wir könnten auch über Warsow fahren. Der Weg führte aber durch Sand und Waldungen und war deshalb für uns nicht benutzbar. Die sechs Kilometer bis Falkenwalde fuhren wir wieder zurück und versuchten am nächsten Tage über Pölitz nach Stettin zu kommen. Wir kamen an dem völlig zerstörten Hydrierwerk vorbei. Es gab dort Stellen, wo buchstäblich kein Stein auf den anderen geblieben war. In Odermünde passierten wir den ersten Posten, kamen durch Stolzenhagen, bis uns vor Gotzlow ein Posten nicht weiter ließ. Er verlangte ein Dokument vom Stettiner Kommandanten, das wir natürlich nicht vorzeigen konnten. Vater wurde aber durchgelassen, um diesen Schein zu holen. Wir anderen durften mehrere Stunden auf ihn warten. Zu unser aller Leidwesen brachte er nicht die Erlaubnis nach Finkenwalde zu gehen, weil dort schon Polenregiment herrschte. War das eine Enttäuschung! Die Buchheide lag nun schon in unserem Blickfeld und erreichen konnten wir sie nun doch nicht! Vater hatte jedoch dafür die Erlaubnis erwirkt, uns in Stettin ansiedeln zu können. Für heute war es nun schon Abend geworden. Wir mussten uns nach einem Nachtquartier umsehen. Beim Gärtner Liermann in Züllchow verbrachten wir die Nacht in einer völlig durchwühlten Wohnung. Als wir nach Stettin zurückkehrten, waren etwa schon 20000 Deutsche dort. Sie wohnten zum allergrößten Teil in Zabelsdorf. Die Außenbezirke wie Braunsfelde hatten die Russen in Beschlag genommen. Infolge der Kommunistenwirtschaft herrschte ein toller Zustand. Das Eigentum der einzelnen war sehr in Frage gestellt. Das Wohnungsproblem wurde dadurch gelöst, dass sich jeder eine beliebige, fremde verlassene Wohnung suchte und das Inventar für sich gebrauchen durfte. Der zurückgekehrte rechtmäßige Besitzer verlor jeden Anspruch auf sein Eigentum. Die Geldwirtschaft ruhte noch ganz. Inzwischen war es aber sehr schwierig geworden, eine freie Wohnung zu finden. Durch Herrn Liermann erfuhren wir von einer Familie, die in Gabelsdorf wohnte, jetzt aber umzuziehen vorhatte. Unser Fuhrwerk stellten wir für diesen Umzug zur Verfügung. Dafür wurde uns die aufgegebene Wohnung zugesichert. Am 2. Juni 1945 nachmittags bezogen wir die Wohnung in der Stöverstraße. Sie bestand aus: 1 Wohn-, 1 Schlafzimmer sowie einem kleinen Zimmer, Flur, Küche und Badezimmer. Die Einrichtungsgegenstände waren zum allergrößten Teil vorhanden. Nur Wertgegenstände wie Uhren und Teppiche waren gestohlen. In der Küche war ein kleiner Herd aufgestellt, da früher nur auf einen Gaskocher gekocht wurde. Darüber konnten wir sehr froh sein. Viele Hausbewohner waren gezwungen, draußen auf dem Hof zu kochen. Vater wurde beim Agraramt der Stadt angestellt. Er führte u. a. auch eine umfangreiche Sammlung von Heilkräutern durch. Luischen arbeitete bei Bandoli und ich musste Gräben und Flakstellungen einebnen. Die meiste Zeit arbeitete ich an der Flakstellung in Zabelsdorf, wo Ulrich als Luftwaffenhelfer gewesen war. Ich konnte aber schon um 14 Uhr zu Hause sein, während Vater und Luischen erst um 17 Uhr kamen. Ernährungsmäßig ging es uns nicht gut. Die Lebensmittelkarten sahen für jeden Arbeiter pro Woche 1 Brot vor. Fleisch wurde kaum ausgegeben. Man musste viele Stunden anstehen, und oft war es so, dass wir das Brot überhaupt nicht bekamen, weil es die Russen einfach aus dem Laden holten. Wir konnten also von den Zuteilungen unmöglich leben. In der Stadt lagerten, wie man bald erfuhr, an uns unbekannten Orten noch Lebensmittelvorräte. Die Bevölkerung war dauernd auf der Suche nach etwas Essbarem. Plündern wurde nicht als Sünde angesehen. Jeder nahm was er brauchte. So zog ich dann auch eines Tages los, schnüffelte hier und da herum und kam mit einem kleinen Rest Haferflocken nach Hause. Eines Abends kam Luischen nach Hause und brachte die Nachricht mit, dass man in der Nähe des Grünhof Marktes Marmelade entdeckt hatte. Luischen und ich stürzten mit zwei Wassereimern bewaffnet sofort hin. Im Keller eines ausgebombten Hauses wühlten einige Leute herum, unzählige standen davor. Als ich nun auch die Hühnerleiter hinabgestiegen war, stand ich buchstäblich mit den Knöcheln in der Marmelade. Von den 100 Eimern waren mindestens 50 umgekippt und ausgelaufen. Meine Schuhe musste ich gleich wieder nach oben befördern, denn sie blieben in der zähen Masse stecken. Mit 2 Eimern, die mir einigermaßen appetitlich erschienen, stieg ich, von oben bis unten bedeckt, nach oben. Meine Beine steckte ich in einen naheliegenden Feuerlöschteich. Am liebsten wäre ich ganz hinein gesprungen. Solche Abenteuer hatten wir noch viele. Doch das Tollste will ich noch schildern: Ganz Stettin war auf den Beinen, um von der Zuckersiederei auf der Lastadie gegenüber des Güterbahnhofes braunen Zucker zu holen. Die Schwierigkeit war, über das Wasser zu kommen. Die Brücken waren natürlich gesprengt. Trotzdem hingen die Menschen wie Trauben an den zerstörten Brückenteilen und versuchten, hinüberzukommen. Luischen und ich hatten Glück, wir wurden von ein paar Russen in einem Kahn, der halb voll Wasser gelaufen war, übergesetzt. Dass wir uns dabei nasse Füße holten, spielte gar keine Rolle. Auf der anderen Seite glücklich angekommen, folgten wir dem Menschenschwarm in einen ausgebrannten Lagerschuppen. Der Zucker, der hier lagerte, hatte zwei kleine Fehler. 1. war er verbrannt und 2. hatte er etwas zu viel Regen abbekommen und war nun steinhart. Mit Picke und Brechstange bekamen wir schließlich so viel los, dass wir reichlich zu schleppen hatten. Doch wie nun wieder bepackt wie ein Esel zurückkommen! Der Kahn war nirgends zu entdecken. Uns blieb nichts anderes übrig, als auch unsere Balancierkünste auf der Brücke zu erproben. Aber die Last auf dem Rücken machte sich doch zu unangenehm bemerkbar, wir mussten umkehren hatten nun vor, es unbelastet noch einmal zu versuchen, um die Rucksäcke dann, von Hand zu Hand gehen zu lassen. Ich kletterte also vor, die konnte man auf einen etwa 20 cm breiten Bogen setzen, mit meiner Hand klammerte ich mich an die Eisenverstrebungen. 10 m unter mir war die Oder. So setzte ich Fuß an Fuß bis ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Luischen war mir nicht gefolgt, sondern hatte einen Kahn erwischt. Von dem Zucker wurde Marmelade gekocht. Johannisbeeren lieferte unser Schrebergarten, den wir inzwischen auch erworben hatten. Bohnen und Frühkartoffeln waren schon in der Erde. Tomaten und Tabak waren auch schon gepflanzt. Täglich kehrten neue Stettiner zurück. Auch Finkenwalder waren darunter. Zehm, Schmidt, Wollin, Franke und Frau Hedemann sahen wir. Herr Schmidt ist bald nach seiner Ankunft von der G.P.U. verhaftet worden. Mitte Juni erreichte uns die Nachricht, dass die Deutschen in Finkenwalde von den Polen mit Gummiknüppeln ausgetrieben wurden. Sie mussten bis Retzowsfelde laufen und durften kaum etwas mitnehmen. Wir waren also vor dem Totalverlust unserer Sachen bewahrt geblieben. Vor Plünderungen von Seiten der Russen war man immer noch nicht sicher. Vater wurde in einer Stadtrandsiedlung seine Uhr abgenommen. Er hatte sie unglücklicherweise am Morgen eingesteckt. In Stettin begann auch unsere Läusegeschichte. Gisela klagte schon einige Zeit über kleine Tierchen hinter dem Ohr, doch schenkte ihr niemand von uns rechten Glauben, bis sie eines Tages vom Anstehen ganz entsetzt nach Hause kam. Man hatte auf ihrem Kopf Läuse gefunden und sie dann mit Schimpf und Schande fortgejagt. Das Läusepulver half nicht viel. Entgegen dutzenden anderslautenden Gerüchten hieß es Ende Juni plötzlich: „Stettin wird polnisch". Vater erhielt sehr bald vom Agraramt die Bestätigung hierfür und wurde gleichzeitig aufgefordert mit der Stadtverwaltung, die Stettin verließ, mitzugehen. Dieses Angebot nahm Vater an, obgleich wir damit unter die verrufendsten Kommunisten gerieten. Am 2. Juli 1945 holte Vater unser Gespann aus Zülchow, das wir dort mit dem Schaf in Pension gegeben hatten. Zu unserem großen Entsetzen hatten die Russen unseren Schimmel gegen einen alten klapprigen Gaul umgetauscht, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Es gelang uns aber noch ein zweites Gespann zu bekommen, auf das wir noch allerlei laden konnten. Wir schlossen uns dem Treck der Stadtverwaltung an. In der Bismarckstraße schon machte unser Gaul schlapp. Er wurde ausgespannt und durfte nun hinterher trotten. Unsere beiden Wagen fuhren von nun an angekoppelt. Ziel war das Gut Lebehn, dort sollte das Landratsamt des Kreises Randow aufgestellt werden. Die ehemaligen Stadträte Stettins wurden vom Kreis übernommen. Das Herrenhaus bot Unterkunft für die Nacht, wir kamen sehr kümmerlich im Inspektorhaus unter. Am nächsten Tag fuhren Vater und Herr Schulz, Leiter der Gartenbauabteilung, noch einmal nach Stettin und kamen mit Büromöbeln wieder. In Lebehn blieben wir jedoch nicht lange. Das Landratsamt siedelte nach dem Gut Hohenholz über, das 4 Kilometer weiter lag. Uns wurde eine Wohnung von 2 Zimmern zugewiesen. Bevor wir einräumten, brachten wir einen großen Dreckhaufen vor die Tür, die Wohnung war vollkommen demoliert. Fensterscheiben fehlten völlig, die Möbel, die noch vorhanden waren, waren unvollständig. Betten zimmerten wir uns selbst, die fehlenden Fenster wurden durch passende Frühbeet Fenster aus der Gutsgärtnerei ersetzt. Die Folge von diesem furchtbaren Schmutz war eine Fliegenplage, wie wir es bisher alle noch nicht erlebt hatten. Bei den Mahlzeiten war der Tisch schwarz vor Fliegen. Die Viecher setzten sich sogar in hellen Scharen auf die Teller. Wir mussten scharf aufpassen, wenn wir uns nicht die Suppe veredeln wollten. Am Tage zu schlafen war einfach unmöglich, die Tierchen ließen uns einfach nicht in Ruhe. Das Landratsamt nahm wieder das Herrenhaus in Beschlag und richtete dort ihre Dienststellen ein. Doch zu einer regelrechten Arbeit ist es nie gekommen. Vor allem lag das an der Unfähigkeit der Leute, sie redeten viel und richteten sich selbst nicht im Geringsten danach. So hielt ein gewisser Herr Rusch, der eine ziemlich bewegte Vergangenheit nachzuweisen hatte, vor versammelter Dorfgemeinschaft eine Ansprache, in der er alle aufforderte ihre Lebensmittelvorräte abzugeben. Er selbst aber hatte Lebensmittel in Hülle und Fülle. Von solchen Brüdern gab es eine ganze Anzahl in Hohenholz. Es war eine Gemeinschaftsküche eingerichtet, der wir uns aber bald entziehen konnten. Unsere Lebensmittelvorräte beschränkten sich auf zwei Brote pro Person und Woche. Es waren Weizenschrotbrote, die niemand vertrug. Wir hatten davon bald so viele, das sie bei uns verschimmelten. Außer Brot bekamen wir noch mehrere Zentner Zuckerrübenschnitzel, die dann den Aufstrich lieferten. Unser Schaf gab täglich einen halben Liter Milch, sonst war kaum ein Tier in der ganzen Gegend zu finden. Hohenholz besaß eine Kuh, von der Brigitte einen viertel Liter Milch bekam. Vater übernahm die völlig verwilderte Gutsgärtnerei. Luischen und ich arbeiteten ebenfalls dort. Luischen war später im Landratsamt Abteilung Fürsorge tätig, auch errichtete sie einen Kindergarten, der aber bald wieder aufgelöst wurde, da er total verlaust war, sogar die Kindergärtnerin! Infolge der höchst mangelhaften Ernährung, die nun schon mehrere Wochen andauerte, wurden wir alle von einem ruhrartigen Durchfall befallen. Der Körper wurde hierdurch so geschwächt und ausgemergelt, dass wir das Bedürfnis dauernder Ruhe hatten. Jeder einzelne Schritt in der heißen Sonne kostete Überwindung. Trotzdem raffte sich Mutti auf, um auf dem Feld Ähren zu sammeln. Doch sie war auch am Ende ihrer Kräfte. Eines Tages konnte sie einfach kein Bett mehr zurechtmachen. Wir befürchteten eine Herzschwäche und wollten sie zum Arzt nach Penkun schicken. Am gleichen Tage brachten wir aus der Gärtnerei noch völlig grüne Äpfel zu Mutti und siehe, es wurde besser mit ihr. Ab und zu holten wir auch von der benachbarten Gutsgärtnerei Lebehn Frischgemüse. Fleisch lieferte uns der Wald in Form von Pilzen. Auf der Chaussee begegneten uns jetzt oft ehemalige Soldaten, die aus den englischen und amerikanischen Gefangenenlagern in Deutschland entlassen waren. Eines Tages kam auch der frühere Gutsgärtner von Hohenholz von Lübeck zurück nach Hause. So könnte nun auch Ulrich auf der Suche nach uns sein. Wir hatten als Treffpunkt für uns Bansin ausgemacht und nahmen infolgedessen auch an, dass er sich bei den Großeltern melden würde. Um ihm dann von uns Nachricht zu kommen zulassen, fuhr ich am 27.07.1945 nach Bansin. Unsere nächste Bahnstation war Grambow, wo alle paar Tage ein Zug vorüberfuhr, auf den man dann aufspringen konnte. Nach 3-tägiger Fahrt mit allerlei Erlebnissen kam ich in Bansin an. Dort fand ich alles in einem verhältnismäßig guten Zustand vor. Die Großeltern hatten reichlich zu essen und wurden auch nicht mehr belästigt. Von den Großeltern bekam ich vor der Rückreise eine Einladung für uns alle, nach Bansin zu kommen. Als ich zurück nach Hohenholz kam lag ein Befehl der Russen vor nach Pölitz überzusiedeln. Eine Wohnung sollte für uns bereit sein. Vater war aber nicht davon überzeugt, dass alles, was uns versprochen wurde auch zu traf. Vater spannte deshalb unseren alten Gaul, der inzwischen in der freien Natur, wo sich kein Mensch um ihn kümmerte, gut erholt hatte, wieder an unseren Wagen, um nach Pölitz zu fahren und festzustellen, ob das Angebot wirklich Ernst gemeint war. Die für uns vorgesehene Wohnung fanden wir besetzt. Auch sonst waren die Umstände nicht günstig. Mit dem Entschluss nach Bansin zu fahren, traten wir die Rückfahrt nach Hohenholz an. Unserer Fahrt nach Bansin wegen hatten wir noch manche Schwierigkeiten zu überwinden. Um unseren Gaul vom Gut frei zu bekommen, mussten wir beim Bürgermeister angeben, dass wir zum Landratsamt nach Pölitz übersiedeln sollen. Am 30.08.1945 begaben wir uns noch einmal auf die Landstraße. In Grambow hielten mehrere Polenzüge, doch ließ uns das Pack passieren. Ab Pasewalk fuhren Luischen und Gisela mit der Bahn voraus. Wir anderen kamen täglich nur etwa 20 km vorwärts. Die Brücke bei Zechlin über die Peene war zerstört. Wir mussten uns von einem Fährschiff übersetzen lassen. Das war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die Rampe zum Schiff war sehr steil. Der Gaul konnte schlecht Fuß fassen und fiel mehrmals hin. Es war eine große Schinderei für ihn. Mit letzter Kraft unseres Gaules aber auch unserer eigenen letzten Kräfte trafen wir 4. September 1945 in Bansin ein. Das Pferd starb 14 Tage später. Wir selbst brauchten auch lange Zeit um uns von allen Strapazen zu erholen.